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Die Mathematik des immateriellen Genoms

[...] Richard Sternberg und andere Wissenschaftler behaupten, dass Standardalgorithmen die Biologie nicht vollständig erklären können. [...] Laut Sternbergs Argumentation werden biologische Prozesse durch kognitive Fähigkeiten gesteuert – die Fähigkeit, authentische Entscheidungen zu treffen und kreatives Verhalten zu zeigen – und das Kontrollzentrum des Lebens ist immateriell (siehe hier und hier). In diesem Artikel werde ich einige grobe Berechnungen anstellen, um zu veranschaulichen, warum viele zu solchen Schlussfolgerungen gekommen sind. Obwohl es sich hierbei nicht um eine formale Verteidigung handelt, zielt die Analyse darauf ab, den Lesern ein intuitives Verständnis für die Logik zu vermitteln, die diesem Standpunkt zugrunde liegt.

Definition des Problems

Der nicht-algorithmische Charakter des Lebens lässt sich gut am Beispiel der Entwicklung veranschaulichen – dem Prozess der Umwandlung einer befruchteten Eizelle in ein Baby. Würde die embryonale Entwicklung algorithmisch gesteuert (d. h. ausschließlich durch physikalische Mechanismen), würde die befruchtete Eizelle oder ein anderer Ausgangspunkt die notwendigen Informationen enthalten, um den gesamten Entwicklungsprozess zu steuern. In der folgenden Analyse wird diese„präformistische”Hypothese in Bezug auf den Menschen überprüft.

Der erste Schritt besteht darin, die Informationsmenge in einer befruchteten menschlichen Eizelle (Zygote) zu schätzen. Die Informationen in der menschlichen DNA belaufen sich auf etwa 10 Milliarden Bit (10¹⁰) – jeder der 3 Milliarden Loci kann eines von 4 Nukleotiden enthalten, und jedes Nukleotid entspricht 2 Bit. Die größte Informationsmenge, die in einer Zygote enthalten sein kann, ist wahrscheinlich geringer als die Menge an Proteinen, DNA, RNA, Lipiden und Kohlenhydraten, d. h. weniger als 1 000 000 000 000 000 (10¹⁵) Bit.

Um festzustellen, ob diese Werte für die Entwicklung ausreichend sind, muss die Embryologie in einzelne Bereiche und Stadien unterteilt werden. Ich schätze die Anzahl der einzelnen Bereiche anhand des durchschnittlichen Abstands zwischen den Kapillaren und des Bereichs vieler chemischer Signale, der etwa 1 mm beträgt, was 1 000 000 Bereiche mit mehreren tausend Zellen ergibt. Ich werde die Anzahl der Entwicklungsstadien auf der Grundlage der Zeit zwischen den einzelnen Zellzuständen schätzen, die mit Transkription, Zellorganisation, Bewegung und Signalen zusammenhängen. Die Untergrenze der Schätzung liegt bei 1000 einzelnen Entwicklungsstadien des Menschen mit einer Dauer von etwa 7 Stunden. Die Gesamtzahl der Übergänge zwischen den Stadien in einzelnen Bereichen ist das Produkt zweier Zahlen, das 1 000 000 000 (10⁹) ergibt.

Wenn die Zygote alle für die Steuerung der Entwicklung erforderlichen Informationen enthalten würde, müsste sie Anweisungen für jeden der etwa 10⁹ verschiedenen Entwicklungsübergänge codieren. Die Menge an Informationen im Genom, die für jeden Übergang zur Verfügung steht, ist jedoch begrenzt. Bei einer Obergrenze von 10¹⁰ Bit im Genom bleiben nur etwa 10 Bit pro Übergang übrig – das reicht gerade einmal für die Kodierung einiger binärer Entscheidungen. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die maximale theoretische Informationskapazität einer Zelle näher bei 10¹⁵ Bit liegt, ergibt diese Obergrenze immer noch nur etwa 1 000 000 Bit pro Übergang.

Berechnung der erforderlichen Informationen

Modelle zur Berechnung ganzer Zellen können einen Eindruck von den minimalen Informationsanforderungen für Entwicklungsalgorithmen vermitteln. Karr et al. (2012) modellierten den Lebenszyklus von Mycoplasma genitalium [gilt als Organismus mit dem kleinsten bekannten Genom – Anm. d. Übers.], einschließlich seiner Komponenten und molekularen Wechselwirkungen. Ihre Simulation modellierte 28 Zellprozesse unter Verwendung von etwa 1000 Gleichungen und 2000 Variablen. Die Größe des Softwarepakets für die Simulation beträgt 500 Millionen Bits. Selbst diese Simulation einer der einfachsten bekannten Zellen überschreitet die Schwelle, die erforderlich ist, damit eine Zygote die für die Entwicklung notwendigen Informationen enthält.

Die Komplexität der Umwandlung eines Bereichs des menschlichen Embryos in das nächste Entwicklungsstadium stellt jedoch eine weitaus schwierigere Aufgabe dar. Jeder Bereich entspricht Tausenden von Zellen. Die minimale Liste der relevanten Variablen für eine einzelne Zelle umfasst Folgendes:

● 10.000 Genzustände

● 10.000 epigenetische Zustände

● 100 Zustände von Signalmolekülen

● 100 Zustände der extrazellulären Matrix und mechanische Zustände

Zusätzliche Variablen entsprechen den Zelltypen und -formen, der Bewegung und der Mikroumgebung.

Jeder Algorithmus, der an der Steuerung der Entwicklung beteiligt ist, muss mit einer Vielzahl von Variablen arbeiten, darunter sowohl interne Zustände von Zellen als auch Signalvariablen, die benachbarten Zellen und oft auch Zellen in entfernten Bereichen gemeinsam sind. Einige Zelltypen, wie z. B. Osteoblasten, wandern über große Entfernungen, erfüllen komplexe Funktionen und interagieren dynamisch mit einer Vielzahl von Zelltypen und Gewebemedien. Infolgedessen übersteigt die Gesamtzahl der Variablen und ihrer Wechselbeziehungen im Entwicklungsprozess die Anzahl der Variablen in Simulationen ganzer Zellen erheblich.

Darüber hinaus verwenden Modelle ganzer Zellen klar definierte Algorithmen zur Lösung von Gleichungssystemen. Im Gegensatz dazu können Embryonen kreativ auf Herausforderungen reagieren, indem sie nicht standardisierte Zellmechanismen auf nicht-algorithmische Weise einsetzen. Sie finden oft sehr schnell optimale Lösungen für Probleme, mit denen sie noch nie zuvor konfrontiert waren. Diese Unterschiede zu Modellen ganzer Zellen deuten darauf hin, dass die Informationsmenge, die mit einem beliebigen Satz von Algorithmen verbunden ist, der nur einen von 10⁹ Übergängen steuern könnte, weit über 500 Millionen Bit liegen muss. Darüber hinaus muss die in der Zygote gespeicherte Information mit der Software und Hardware übereinstimmen, um die Entwicklungsalgorithmen zu starten. Die Zygote ist nicht in der Lage, alle erforderlichen Informationen zu speichern.

Selbst wenn die Zygote algorithmische Informationen enthalten könnte, stellt die erforderliche Anzahl von Berechnungen ein nicht weniger komplexes Problem dar. Die Offenheit der Probleme, die im Entwicklungsprozess auftreten, bedeutet, dass der Übergang der Zellen von einem Stadium zum nächsten ein nicht-algorithmisches Problem darstellt (siehe„Neuer Artikel über die philosophische Revolution in der Biologie – Geist über Materie“). Solche Probleme erfordern mehr Operationen als NP-schwierige Probleme, die mit der Anzahl der Variablen exponentiell zunehmen.

Folglich muss die Anzahl der Berechnungen für einen Entwicklungsübergang 10⁹ hoch 10 übersteigen, was 10⁹⁰ (1 mit 90 Nullen) entspricht. Modelle ganzer Zellen können den Zellzyklus in 10⁹ Operationen modellieren, und der Exponent wird mit 10 multipliziert, da Entwicklungsübergänge mehr als zehnmal so viele Variablen umfassen. Eine solche Anzahl von Berechnungen kann selbst mit dem schnellsten Computer, der so groß wie die Erde ist, in der gesamten Geschichte des Universums nicht durchgeführt werden; es handelt sich um eine transcomputable Aufgabe.

Ein weiteres Beispiel für eine transcomputable Aufgabe der Natur der Entwicklung ist die Anzahl der möglichen Veränderungen des Zustands von Genen. Wenn sich von den etwa 10.000 Genen, die an der Entwicklung beteiligt sind, nur 30 verändern, nähert sich die Anzahl der Kombinationen 10⁹⁰. Zum Vergleich: In einer einzigen Entwicklungsphase können Tausende von Veränderungen des Zustands von Genen auftreten, sodass möglicherweise mehr als 30 Gene verändert werden müssen, um auf Entwicklungsstörungen während des gesamten Entwicklungszeitraums zu reagieren. Die Anzahl der möglichen Reaktionen – und die Berechnungen, die zu ihrer Bewertung erforderlich sind – übersteigt 10⁹⁰ bei weitem.

Fazit

Wenn die Zygote keine Informationen enthalten kann, die die Entwicklung steuern, dann muss diese Information in einer logischen und mathematischen Struktur enthalten sein, die aus der platonischen Form hervorgeht oder dieser entspricht, wie Sternberg schlussfolgerte. Wenn man eine so radikale Schlussfolgerung nicht akzeptieren möchte, muss man anerkennen, dass die Entwicklungsalgorithmen eine Effizienz und Genialität aufweisen, die das menschliche Wissen bei weitem übertreffen. Sie können nur aus einem Verstand entstanden sein, der unseren eigenen weit überlegen ist.

Darüber hinaus muss jedes nicht zielgerichtete Evolutionsmodell verworfen werden. Jeder Bereich des Fötus verwendet eine Reihe von Operationen, die eine Karte der nachfolgenden Entwicklungsstadien und Anweisungen für den Übergang vom aktuellen zum nächsten Stadium enthalten. Sie müssen auch Pläne für unvorhergesehene Umstände für unzählige mögliche Ausgangszustände haben. Jeder größere evolutionäre Übergang muss die Algorithmen in allen Bereichen und in allen Phasen sofort ändern. Würden Mutationen nur einige Bereiche in einigen Phasen zu einem neuen Organismus umleiten, würden die nachfolgenden Phasen die Entwicklung des Fötus wieder zum ursprünglichen Ziel zurückführen. Wenn die Umleitungsversuche nicht erfolgreich wären, würde das Individuum Deformationen oder den Tod erleiden. Nur ein Designer könnte jeden Algorithmus gleichzeitig ändern, um die Entwicklung konsequent auf ein neues Ergebnis auszurichten.

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